Den vom propagandistischen Terrorsystem des Hitler- Regimes als „entartet“ kanonisierten Komponisten Viktor Ullmann (1899-1944) dem Vergessenwerden zu entreißen, gestaltet sich seit seiner Wiederentdeckung in den siebziger Jahren ungleich schwieriger, als es beispielsweise bei Arnold Schönberg oder Gustav Mahler der Fall war. Denn hier ist nicht allein das Werk eines Komponisten diffamiert, dessen Aufführung und Verbreitung verhindert worden. Vielmehr ist die Absicht des nationalsozialistischen Vernichtungsapparates, eine Persönlichkeit in ihrem ganzen Sein und all ihren Bezügen auszulöschen, ihrem Ziel entsetzlich nahe gekommen. Nur einer Reihe kleiner und größerer Wunder ist der Erhalt zahlreicher Kompositionen Ullmanns zu verdanken, seinem ebenso an ein Wunder grenzenden Kunstwillen die Entstehung seiner reifsten Meisterwerke unter den menschenunwürdigen Lebensumständen des Konzentrationslagers Theresienstadt.
Als Sohn assimilierter jüdischer Eltern am Neujahrstag 1899 im österreichisch-schlesischen Teschen geboren und katholisch getauft, zum Protestantismus konvertiert, Freidenker ebenso wie glühender Anhänger der Lehren Rudolf Steiners, bleibt Ullmann sein Leben lang auf spiritueller Suche, ein Heimatloser und unermüdlich Fragender – offen für divergierendste Strömungen des Zeitgeistes.
So überrascht es kaum, dass die um die Jahrhundertwende einsetzende Welle der Begeisterung für fernöstliche Sujets auch vor Viktor Ullmann nicht haltmacht. Bereits im ersten mit glanzvollem Erfolg öffentlich aufgeführten Werk des jungen Komponisten, der nach Beendigung eines Studienjahrs bei Arnold Schönberg dessen Lehrer und Schwager Alexander Zemlinsky als musikalischer Assistent an das Neue Deutsche Theater Prag nachgefolgt ist, finden sich Spuren orientalischer Poesie: Die (leider verschollenen) Sieben Lieder mit Klavier aus dem Jahr 1923 weisen auf dem Prager Programmzettel – neben Georg Trakl und der auch von Zemlinsky vertonten Louise Labé – den altpersischen Dichter Hafis (um 1325-1390) als Textautor aus, aller Wahrscheinlichkeit nach in der deutschen Fassung des Lyrikers Hans Bethge.
Die weite musikalische Verbreitung jener „poetischen Nachdichtungen“, die Hans Bethge (1876-1946) nach japanischen, chinesischen, indischen, persischen oder türkischen Vorlagen verfasste, ohne eigentlich eine der übersetzten Sprachen zu beherrschen, verdankt sich wesentlich der nachhaltigen Wirkung von Gustav Mahlers „Lied von der Erde“, 1908 auf Bethge-Gedichte komponiert und uraufgeführt kurz nach Mahlers Tod im Jahre 1911.
So finden sich in der Nachfolge Mahlers Bethge-Kompositionen bei Arnold Schönberg und seinen Schülern Anton Webern, Egon Wellesz und Hanns Eisler, aber auch bei Ernst Krenek, Wilhelm Grosz oder Richard Strauss. Alexander Zemlinsky, dem Ullmann Zeit seines Lebens freundschaftlich verbunden bleibt und dessen Werke er noch im Ghetto von Theresienstadt aufführt, reflektiert Mahlers Werk in der Komposition der „Lyrischen Symphonie“. Die gleichermaßen fernöstlichen Gedichtvorlagen dazu entnimmt Zemlinsky dem dichterischen Schaffen seines indischen Zeitgenossen Rabindranath Tagore, dessen nobelpreisgekrönte Schriften neben denen Bethges ebenfalls bevorzugte Lektüre Ullmanns sind.
Auch Viktor Ullmann, für den während seiner Prager Jahre der Begriff „deutschböhmische Musik eine Tatsache geworden ist“, empfindet – nicht nur unter den Aspekten des gemeinsamen geokulturellen Hintergrunds – eine besondere Verbundenheit mit Mahler. Dies dokumentieren die Widmung des Trauermarsches der ersten Klaviersonate aus dem Jahr 1936 in memoriam Gustav Mahler oder die nicht zuletzt von Mahler herrührende kompositorische Verwendung böhmischer oder südslawischer Folklore ebenso wie die Vertonungen lyrischer Exotismen Bethges.
Von längerer Odyssee über Zürich und Stuttgart endgültig nach Prag zurückgekehrt, komponiert Ullmann 1940 vier weitere Hafis-Gedichte in der Übertragung von Hans Bethge, die er unter dem Titel Liederbuch des Hafis zusammenfasst und als opus 30 im Selbstverlag herausgibt.
Bereits der vom überzeugten Anthroposophen Ullmann zutiefst verehrte Goethe wußte um die Bedeutung der Hafis-Gedichte als Chiffren geheimer Liebesmitteilung im gefahrvollen Raum öffentlicher und familiärer Sozialkontrolle. Diese charmante Verwendung haben die Verse eines Hafis, eines Nesamin oder eines Sa’adi im persischen Raum im Übrigen bis auf den heutigen Tag nicht verloren. Und auch in den fünfzehn orientalisch verkleideten Wortgeschöpfen aus Stefan Georges „Buch der Hängenden Gärten“, die Arnold Schönberg 1908 für den epochalen und seinem Kompositionsschüler Ullmann durchaus vertrauten Liederzyklus op. 15 auswählte, schwingt diese Tradition mit.
Im Gegensatz allerdings zur nicht eben eingängigen musikalisch-poetischen Hermetik Schönbergs kommen bei Ullmann die vornehmlich erotischen Botschaften des Hafis betörend leichtfüßig daher: Den Gesang des tanzenden und trunkenen Derwischs untermalen Modetanzrhythmen, wie sie – ihre Herkunft vom Jazz nicht verleugnend – seit den zwanziger Jahren scharenweise durch die Musikproduktion der Avantgarde geistern. „Shimmy“, „Boston“ oder „Ragtime“ tituliert beispielsweise Paul Hindemith einzelne Sätze seiner „Tanzsuite 1922″ für Klavier. Auch Ernst Kreneks 1927 in Leipzig uraufgeführte Oper „Jonny spielt auf“ erzielt vielfältige Verfremdungseffekte durch die kompositorische Verwendung von Jazz-Elementen. Ullmann selbst, wie Mahler ein dirigierender Komponist, initiiert bereits im Folgejahr 1928 in seiner kurzzeitigen Eigenschaft als musikalischer Operndirektor am Theater in böhmischen Aussig (heute Ústi nad Labem) eine Wiederaufführung. Der große persönliche Einsatz, mit dem Ullmann zur raschen Verbreitung jenes Werkes beiträgt, das Krenek schließlich einen „OpernWelterfolg“ beschert, korrespondiert mit der eigenen Verwendung stilverwandter Kompositionstechniken. Daß nun der Liedkomponist Ullmann, dessen Vokalkompositionen weit mehr als die Hälfte seines benennbaren Œuvres bilden, im Liederbuch des Hafis Elemente der JazzTanzsuite mit denen des Liederzyklus verbindet, macht den eigenen, innovativen Reiz dieses lyrischen Kleinods aus.
Gleichermaßen der Schenke wie der Schenkin verfallen, betritt der sinnenfreudige Ich- Protagonist der Vorausbestimmung die poetische Bühne mit leicht übergewichtigem Cakewalk. Diese heitere Tanzform gab Ullmann auch in Theresienstadt noch Anlaß zum lindernden Eskapismus einer Geburtstags-Liedkomposition mit dem Titel Little Cakewalk, einem augenzwinkernd auf Debussys „Children’s Corner“ verweisenden französischen Liedchen.
Das folgende Lied Betrunken steht merkwürdig isoliert in seiner kafkaesken Stimmung angsterfüllter Atemlosigkeit, erzeugt durch die gehetzten Echos kanonischer Imitationen. Der Taumelschatten wird zum grotesken Doppelgänger und weckt Assoziationen zum Blinden Passagier, jenem lyrischen Ausdruck der tiefen Identitäts- und Schaffenskrise Ullmanns seit den frühen dreißiger Jahren. Das erschütternde Selbstzeugnis dokumentiert auch die innere Hinwendung zur Anthroposophie, die dem Komponisten nach mehrfach gescheiterten Therapieversuchen dabei half, den Abgrund der drohenden Persönlichkeitsspaltung zu überwinden. Der hierin aufscheinende autobiographische Aspekt der Komposition mag durch den Gedanken verstärkt werden, daß es vermutlich auch der 1941 zum zweiten Mal geschiedene Ullmann selbst gelegentlich mit einer scheltenden Suleima zu tun bekam…
Unter der Tempobezeichnung quasi Slow-Fox führt Unwiderstehliche Schönheit die Gesangsstimme in dunkelste Bassregister und erweist sich als laszivstes der sinnentrunkenen Hafis-Bekenntnisse.
Das bacchantisch aufbrausende Lob des Weines schließlich, von Richard Strauss bereits 1928 komponiert und unter dem Originaltitel „Schwung“ in die Bethge-Gruppe „Gesänge des Orients“ aufgenommen, beendet den kleinen Zyklus als Apotheose des Rausches. Und als ein enthusiastischer Nachklang prägender Jugend- und Studienjahre in der Donaumetropole Wien mag es wohl gelten, wenn Ullmanns wuchtiger Hafis sich im Walzertakt zu den tanzenden Sphären aufschwingt.
Im September 1942 trifft Viktor Ullmann mit einem Deportationszug aus dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Prag im Konzentrationslager Theresienstadt ein. Die Widmungsträgerin des Hafis- Liederbuchs, die Prager Sopranistin Marion Podolier, gehört ebenso zu den Mitinhaftierten wie andere Freunde und Familienangehörige des Komponisten. Die übermenschliche Leistung des Komponierens in diesem Vorhof der Vernichtung, aus dem uns 23 vollständige Werke Ullmanns erhalten sind, erscheint angesichts ihrer Qualität wie Quantität nahezu unbegreiflich.
Zu den unter den entwürdigenden Lebensbedingungen des Lagers in Angriff genommenen, jedoch nicht mehr vollendeten kompositorischen Vorhaben gehört auch, wie der durchgestrichene Vermerk auf einem Manuskript vermuten lässt, ein weiteres Liederbuch, diesmal dem Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) gewidmet. Mit der Wahl des Textautors steht Ullmann auch in diesem Fall unter Zeitgenossen nicht allein: Während die Nazis Hölderlin zur Verklärung des Heldentods für sich beanspruchen, wird er für Emigranten wie Eisler oder Hindemith zum Dichter des inneren wie äußeren Exils. Auch Ullmann, dem es vor seiner Deportation nur noch gelungen war, seine Kinder Johann und Felicia aus dem besetzten Prag nach England zu schicken, wählt Hölderlin als Begleiter auf dem letzten Weg seiner inneren Emigration.
Die Auseinandersetzung Ullmanns mit Hölderlin reicht länger zurück. Hölderlin-Vertonungen des Wieners Joseph Matthias Hauer, auf dessen Zwölftonlehre sich Ullmann in einem 1935 veröffentlichten Aufsatz bezieht, dürften bereits dem Studenten bekannt gewesen sein.
Spätestens aber während des krisengeschüttelten Stuttgarter Aufenthalts von 1931-33 war für Ullmann die Nähe zum Tübinger Hölderlinturm, diesem zur Ikone gewordenen Aufenthalt des Dichters in dessen rätselhafter zweiter Lebenshälfte, sicherlich mehr als nur räumlicher Natur. Es mag dahingestellt bleiben, ob eine schizoide Veranlagung Ullmanns unbeugsamem Willen zur künstlerischen Produktion zugute kam und das Unerklärliche seiner allen hinderlichen Lebensumständen widerstreitenden Kompositionsleistung in Teilen erhellt. Bereits der jugendliche „Einjährig Freiwillige Kanonier“ der Kriegsjahre 1916-18 war erst durch den Fronteinsatz an der mörderischen Isonzo-Linie von seiner Arbeit an einer (nicht erhaltenen) Kammersymphonie abgebracht worden. Denkbar, dass die Bewährung im inneren und äußeren Überlebenskampf des ersten Weltkriegs für Ullmann eine „Vorschule der Hölle“ war.
Aus Theresienstadt gerettet wurden die Autographe dreier Hölderlin-Vertonungen. Zwischen blühendem Aufschwung und resignativem Verstummen bewegt sich die Komposition Im Frühling. Wie in vielen Liedern Ullmanns findet hier die Zerrissenheit der Gefühlswelten ihren melodischen Ausdruck im Durchwandern extremer Gesangslagen, die den Sänger an die Grenzen des Stimmumfangs treiben. Vollends zum reifen Personalstil ausgeprägt zeigt sich hier auch Ullmanns Bestreben, die unerschöpften Bereiche der tonal funktionellen Harmonik zu ergründen und die Kluft zwischen der romantischen und der ‚atonalen‘ Harmonik auszufüllen. So gelingt es der kompositorischen Meisterschaft dieser 24 Takte währenden Miniatur, uns einen in seiner Schönheit zutiefst anrührenden Ausdruck der reichen Seelenlandschaft dieses Einsamen zu übermitteln, der bis zu seiner Ermordung in Auschwitz noch zwei Lenze hinter Gefängnismauern zu verleben hat.
In weitausholender Quartenmelodik greift die Singstimme im Sonnenuntergang nach der Ferne des grenzenlosen Abendhimmels. Dessen letztes Verdämmern, der Weggang des entzückenden Sonnenjünglings hin zu frommen Völkern erhält vor dem Hintergrund der Shoah überindividuelle Dimension: Mehr noch als den eigenen Untergang kennzeichnet Ullmann im fallenden Schlußmotiv mit dem Ende des Liedes auch das einer Kultur.
In demselben Maße wird das Hölderlinsche Wohin denn ich? der Abendphantasie im Hinblick auf den Leidensort Theresienstadt zum Ausdruck einer kollektiven Identität. Und die langen Atemzüge, die ruhevollen Akkorde dieser großen Komposition wollen schier nicht enden in ihrer Sehnsucht nach Bestehen in einer den Vernichtern abgetrotzten Kunst-Welt.
Burkhard Kehring